(Soziale) Ungleichheiten in Zeiten von Covid-19

Wir, das KIJU-Netz als Zusammenschluss mehrerer Trägervereine Offener Kinder- und Jugendarbeit in Wien, positionieren uns zu den aktuellen Entwicklungen während der Maßnahmen in Zeiten von Covid-19.

Die Ausgangsbeschränkungen in Österreich zwischen Mitte März und Ende April haben unsere Arbeit

–  wie die vieler Menschen – gravierend verändert: der zwischenmenschliche Kontakt, Interaktionen und Gespräche führen sowie einen Raum für Austausch zu schaffen, stehen im Mittelpunkt der Kinder- und Jugendarbeit sowie Gemeinwesenarbeit. All das war in den letzten Wochen nur mehr begrenzt, vor allem im virtuellen Raum bzw. mit Hilfe digitaler Medien möglich. In den Chats, Telefonaten, Messenger-Kommunikationen, aber auch in Gesprächen mit unseren Zielgruppen bei Mobilrunden im öffentlichen Raum wurde schnell klar, dass alle an unterschiedliche Grenzen stoßen und besondere Herausforderungen meistern müssen, denn: (Soziale) Ungleichheiten werden durch die Ausnahmesituation, welche das Virus mit sich gebracht hat, verstärkt sichtbar und erfahrbar.

Diese Ungleichheiten und die damit einhergehenden Problemlagen umfassen verschiedene Aspekte:

Schule: Lernen von Zuhause

Das schulische Lernen wurde von einem Tag auf den anderen ins Zuhause von Familien verlagert und stellte sie vor unterschiedliche Probleme: Es gab und gibt nicht ausreichend technische Ressourcen, damit alle in einem Haushalt lebenden Personen die von ihnen erwartete Arbeit erfüllen können. Es gibt Familien, in denen Eltern ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen nicht ausreichend unterstützen können, z.B. weil Deutsch nicht ihre Erstsprache ist, weil sie keine ausreichende Schulbildung haben, weil manche Bildungsinhalte fremd sind, weil sie zu wenig technisches Wissen besitzen, um die digitalen Anforderungen der Schule zu meistern, etc. Das plötzliche Lernen von Zuhause begrenzte das soziale Umfeld von Kindern und Jugendlichen wochenlang auf ihre Familien, es gab keinen face to face Kontakt mit Gleichaltrigen und ihren Freund*innen und kaum “realphysische” Austauschmöglichkeiten. Zusätzlich haben Schüler*innen nach wie vor keine Klarheit darüber, wie die Zeit von Covid-19, das homeschooling und die wenigen verbleibenden Schultage unter erschwerten Bedingungen eine angemessene Benotung ermöglichen.

Zugang zu Informationen

In den letzten Wochen, wo sich Informationen sowie Regelungen rasch verändert haben, waren diese nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Die Maßnahmen der Regierung waren nicht eindeutig und widersprüchlich formuliert; es gab nicht ausreichend Informationen in anderen Sprachen als Deutsch; die Qualität der verfügbaren Informationen war mangelhaft bzw. Übersetzungen waren falsch; es gab und gibt Menschen, die wenig(er) Zugang zu Informationen haben. Information ist jedoch für uns alle wichtig, damit wir unsere Pflichten sowie Rechte kennen und uns dadurch gleichberechtigt schützen und organisieren können.

Wohnraum

Menschen leben in unterschiedlichen Wohnverhältnissen, v.a. im oft dicht bebauten, urbanen Milieu steht Menschen nicht ein ganzes Haus mit mehreren Zimmern und sogar Garten zur Verfügung. Vielen fehlte es in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen an ausreichenden und leistbaren Wohn- und Arbeitsräumen, geschweige denn Freiräumen zur Erholung. Der Alltag konzentriert sich auf engem Raum, was u.a. Lernen, Rückzug, Bewegung und Spielbedürfnisse einschränkt bis verunmöglicht. Beengter Wohnraum erhöht auch die Wahrscheinlichkeit von familiären Konflikte bis hin zu häuslicher Gewalt sowie für Menschen, die z.B. in Einrichtungen für Geflüchtete oder Wohnungslose untergebracht sind, ein erhöhtes Ansteckungsrisiko.

Bewegung

Menschen sind v.a. in den ersten Wochen der Ausgangsbeschränkungen sehr unterschiedlich mit der Situation umgegangen: für viele bedeutete die veränderte Lebenssituation eine massive Einschränkung ihres Bewegungsraumes und ihres sozialen Umfeldes. Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, haben aus verschiedenen Gründen nur selten die Wohnung verlassen, z.B. weil die “Regeln” für das Verlassen des Hauses unklar formuliert und nicht verständlich waren oder weil sie selbst oder Personen, mit denen sie zusammenleben, zur Risikogruppe gehören. Insbesondere für Kinder und Jugendliche ist Bewegung aber wichtig, worauf bei den Ausgangsbeschränkungen wenig bis kaum Rücksicht genommen wurde.

Ausbildung, Arbeits- und Lehrstellen

Viele Menschen sind derzeit in der Situation, dass sie in Kurzarbeit geschickt bzw. ihre Arbeitsstellen gestrichen wurden. Insbesondere Jugendliche sind davon betroffen, dass sie Lehrstellen verloren haben, verlieren bzw. nicht antreten können. Es bedeutet für sie besondere Unsicherheit, da es großen Einfluss auf ihre Zukunft und vor allem ihre Zukunftsperspektiven hat. Ihnen wird vermittelt, dass sie in der Gesellschaft ihren Platz finden, indem sie eine Ausbildung machen, die Schule absolvieren, Lehrstellen abschließen und so Leistung erbringen. Auch ohne eine gesellschaftliche Krise wie Covid-19 stehen Jugendliche und junge Erwachsene unter großem Druck – nun fehlen Ihnen aber die Möglichkeiten.

(Geld-)Strafen in Bezug auf die Verletzung der Corona-Verordnung

Die Corona-Verordnung der Regierung hat stärkere Kontrollen der Polizei im öffentlichen Raum mit sich gebracht. An die jeweils geltenden Regelungen erinnert, ermahnt, aber auch gestraft werden offiziell alle, die sich nicht nicht entsprechend verhalten. Unserer Erfahrung nach trifft es jedoch manche Menschen besonders, nämlich unsere Zielgruppen. Das liegt einerseits daran, dass ihnen die Regeln nicht immer klar sind/waren (z.B. nicht Deutsch als Erstsprache), dass es ihnen schwerer fällt, sich daran zu halten (z.B. Wohnungslose), dass sie Jugendliche sind, die in dieser Phase ihres Lebens nicht allen Regeln der Erwachsenenwelt folgen wollen, etc. Die Probleme der derzeitigen “Strafpolitik” sehen wir in der unangemessenen Höhe der Strafen, in ihrer Willkür und Undurchsichtigkeit sowie darin, wer im Fokus von “Strafmaßnahmen” steht: Jugendliche, Menschen, die sich nicht entsprechend verteidigen und ihren Fall argumentieren können, Menschen, die sowieso schon wenig Geld haben, Menschen, die auch in anderen Lebenslagen Diskriminierungen und Benachteiligungen ausgesetzt sind und wenig(er) Ressourcen haben. Die gezielte Adressierung bestimmter Gruppen im öffentlichen Raum durch die Polizei kann als Racial und Social Profiling bezeichnet werden – eine Praxis, der es mit besonderer Sensibilität zu begegnen gilt. Bestrafung als pädagogisches Handlungskonzept ist zumindest in pädagogischen Kontexten schon seit längerem fragwürdig.

Versorgung von Wohnungslosen bzw. marginalisierten Gruppen im öffentlichen Raum

Wohnungslose, aber auch Menschen aus anderen marginalisierten Gruppen, die in ihrem Leben und Alltag auf den öffentlichen Raum angewiesen sind, werden auch von der aktuellen Krise besonders getroffen. Die Regelung, sich nur zu bestimmten, ausformulierten Zwecken im öffentlichen Raum aufzuhalten, erklärte ihre Beweggründe z.B. als nicht zulässig. Menschen, die sich aus unterschiedlichen Anlässen viel Draußen aufhalten, wurden und werden aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Aktuell sind sie besonders exponiert, einerseits für das Risiko einer Ansteckung, andererseits als Personen, denen ihre Lebensumstände die Einhaltung der Regelungen verunmöglichen und somit auch ungeschützt vor Anschuldigungen anderer sowie den Strafen durch die Polizei dastehen. Vor der Verlängerung des Winterpakets gab es zu wenig Schlafplätze, für Menschen mit spezifischen Bedürfnissen (z.B. Minderjährige, Paare, Menschen mit Hunden) gibt es nach wie vor zu wenige. Nach der vorübergehenden Schließung von Essensausgaben gab es nur ungenügende Versorgung mit Lebensmitteln. Aufgrund der Corona-Verordnung blieb in Wien vorerst das Wasser in den Parks abgedreht, welches für wohnungslose Menschen eine Versorgung mit Trinkwasser genauso wie die Möglichkeit für Körperhygiene darstellt. Nicht-versicherte Personen waren in den letzten Wochen mit einer noch schlechter zugänglichen medizinischen Versorgung konfrontiert.

Wer ist das “nationale Wir”?

In den unzähligen Pressekonferenzen, aber auch in Aktionen der Polizei, politischer Parteien, etc. wurde es deutlich: Alle Maßnahmen der Regierung richten sich an die “Österreicherinnen und Österreicher” und mit “I am from Austria” wird zur nationalen Verantwortung aufgerufen. Dabei wird jedoch nicht berücksichtigt, dass viele Menschen in Österreich leben, die keine österreichische Staatsbürgerschaft haben, kein Wahlrecht, nicht ausreichend unterstützende Infrastruktur, andere Bezugsgruppen als jene der “Österreicher*innen”. Menschen, die Sorgen haben um Familien und Freund*innen in anderen Ländern und dementsprechend auch andere Solidaritäten. Mit “Österreicherinnen und Österreicher” werden bei weitem nicht alle angesprochen – im Gegenteil wird damit ein expliziter Ausschluss formuliert, der vielen das Gefühl vermittelt, “nicht dazuzugehören” und “nicht gemeint zu sein”.

Wir sehen es als unsere Aufgabe als Jugendarbeiter*innen, als Sozialarbeiter*innen und als Vereine, die in Wien seit vielen Jahren v.a. mit Kindern, Jugendlichen und Menschen aus benachteiligten Gruppen arbeitet, auf diese sozialen Ungleichheiten hinzuweisen. Auf die Problemlagen der Menschen, die hier wohnen, muss politisch adäquat reagiert werden, denn laut Charta der Menschenrechte haben alle ein Recht darauf, nicht vergessen oder übersehen zu werden, sondern im Gegenteil, ihrer Lebenslage entsprechend Aufmerksamkeit zu bekommen. Auch wenn die Ausgangsbeschränkungen zurückgenommen wurden, Begegnungen im öffentlichen Raum wieder möglich sind, Schule wieder außerhalb der Wohnungen stattfindet, vorübergehende Schlafplätze geschaffen wurden, die ursprüngliche Strafpolitik überdacht wurde, viele Menschen in Gesprächen und mit Übersetzungen helfen, damit alle die notwendigen Informationen erhalten, bleiben gewisse (soziale) Ungleichheiten auch derzeit und in Zukunft bestehen.

Als Akteur*innen der Sozialen Arbeit und Jugendarbeit sehen wir auch in unserer Praxis Handlungsbedarf: Wir wollen unsere Zielgruppen in den Jugendtreffs und im öffentlichen Raum unterstützen, indem wir ihren Problemlagen Sichtbarkeit verschaffen und durch Sensibilisierungsarbeit das Bewusstsein für die Bedeutung von Solidarität stärken. Im Rahmen unserer Möglichkeiten können wir beraten, bei schulischen Angelegenheiten, bei Unsicherheiten in Bezug auf Lehrstellen und Jobs sowie beim Ansuchen von Förderungen unterstützen bzw. an spezialisierte Einrichtungen weitervermitteln und vielen anderen persönlichen Problemlagen zu den Themen Wohnen, materielle Sicherung, Ressourcen zur Verfügung stellen bzw. organisieren, Austauschräume für die aktuellen Erfahrungen anbieten und Kindern, Jugendlichen und Menschen, die Bedarf haben, ein offenes Ohr schenken.

Dafür brauchen wir:

Schule

Schule sollte in keiner Situation die Lernenden (und ihre Familien) zur Verzweiflung bringen, deshalb braucht es angemessene politische Entscheidungen, flexible Schulsysteme, rücksichtsvolle und sensible Lehrer*innen und viel gegenseitige Unterstützung. Es braucht ausreichend schulische Unterstützungsangebote sowie ausreichend technische Ressourcen.

#Lernenistsozial #Lernhilfe #Schulevondaheim #Gemeinsamgehtsleichter

Wohnraum

Unterschiedliche Wohnsituationen sollten sich nicht nachteilig auf Lernen, Beteiligung und Freiräume auswirken. Es braucht leistbaren Wohnraum und viel öffentlichen Raum, den alle nutzen können.

#Raumfürsich #Gemeinsamgehtsleichter

Bewegung

Bewegung und Freiräume für soziales Leben und Spielen sind für alle Menschen wichtig und es müssen auch weiterhin Möglichkeiten dafür geschaffen werden.

#Gemeinsamgehtsleichter

Ausbildung, Arbeits- und Lehrstellen

Jugendliche und junge Erwachsene brauchen Zukunftsperspektiven und dafür brauchen sie Chancen in Bezug auf Ausbildung und Arbeit.

#Jugendfoerdern #Lehrstellenfueralle #Gemeinsamgehtsleichter

Informationen

Alle Menschen sollten ausreichend Zugang zu wichtigen und vor allem richtigen Informationen haben, dafür muss auf allen Ebenen gesorgt werden.

#Informationfüralle #Gemeinsamgehtsleichter

(Geld-)Strafen

Bestrafung insbesondere von bestimmten Gruppen darf nicht als pädagogisches Mittel eingesetzt werden und muss angemessen erfolgen.

#Coronastrafen #Gleicherechtefüralle #Gemeinsamgehtsleichter

Versorgung im öffentlichen Raum

Auch Menschen aus marginalisierten Gruppen müssen die Möglichkeit erhalten, ihre Grundbedürfnisse abzudecken und in ihrer Lebenslage unterstützt zu werden. Dafür sollten z.B. ganzjährig ausreichend Schlafplätze zur Verfügung gestellt werden.

#Gleicherechtefüralle #Gemeinsamgehtsleichter #Antidiskriminierung

das “nationale Wir”

“Alle, die hier sind, sind von hier!” Staatliche Unterstützung, aber auch Solidarität darf sich nicht auf eine Staatsbürgerschaft und vermeintliche Zugehörigkeiten beschränken.

#Solidarität #Antidiskriminierung #Gleicherechtefüralle #Gemeinsamgehtsleichter

… und Vieles mehr!

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