Zur Situation marginalisierter Personen im öffentlichen Raum während einer Pandemie
Seit einem Jahr befinden sich die in Österreich lebenden Menschen in einer Ausnahmesituation, verursacht durch die COVID-19-Pandemie. Manche Menschen leben aber nach gesamtgesellschaftlichen Maßstäben unabhängig davon in einer ständigen Ausnahmesituation, deren Rahmenbedingungen sich im Jahr 2020 zusätzlich verschärft haben. Ein Nebeneffekt der COVID-19- Maßnahmen ist die Wiederentdeckung der Bedeutung des öffentlichen Raums als Aufenthaltsort, denn Parks und Freizeitanlagen werden seit Beginn des letzten Jahres deutlich intensiver genutzt als in den Jahren davor.
Belastung marginalisierter Menschen
Von der aktuellen Situation besonders betroffen sind sozial schwächere Personen. Eine Studie der Armutskonferenz zeigt, dass die Mehrheit der Mindestsicherungsbezieher*innen in Österreich in beengten Wohnverhältnissen lebt. Für diese ebenso wie für wohnungslose Menschen ist der öffentliche Raum von großer Bedeutung für den Alltag, um z.B. die Wohnsituation ein Stück auszugleichen. Studien, die im letzten Jahr und davor entstanden sind, belegen, dass Faktoren wie Einkommen, Wohnraum, Aufenthaltsstatus, soziale Netzwerke, etc. großen Einfluss auf die psychische Gesundheit haben. Das bedeutet, dass sozial belastete Menschen auch von psychischen Herausforderungen besonders betroffen sind.
Marginalisierte Menschen haben oft mit multiplen Problemlagen zu kämpfen, dazu zählen Verlust familiärer und freundschaftlicher Netzwerke, kein legaler Aufenthaltsstatus, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Wohnungslosigkeit, Suchtmittelkonsum, Diagnose für eine psychische Störung, Gewalt und Kriminalität aufgrund ihrer Lebenssituation u.v.m.
Nutzungsdruck im öffentlichen Raum
Gerade für den Erhalt der psychischen Gesundheit ist es wichtig, soziale Kontakte zu pflegen und entlastende Gespräche zu führen – nachdem aktuelle Maßnahmen empfehlen, sich nicht in Innenräumen mit anderen zu treffen, ist es wichtig, dass Treffen zumindest draußen möglich sind. Dieses Bedürfnis verspüren viele, weshalb es seit einem Jahr zu einer außergewöhnlich starken Nutzung der Parks in Wien kommt. Hinzu kommt eine Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes und damit weniger konsumfreie Räume: Die Wiener Stadtregierung stellt im Sommer 2021 öffentliche Flächen für die gewerbliche Nutzung als „Schanigärten“ der Gastronomie zur Verfügung. Der entstehende Nutzungsdruck führt verstärkt zu Konkurrenzsituationen im öffentlichen Raum, denn eines wurde schnell klar: Der öffentliche Raum ist limitiert. Diejenigen, die schon immer auf Parks als Lebens- und Aufenthaltsraum angewiesen waren, werden dabei zunehmend als lästig empfunden und wenig Ressourcen allgemein bedeuten in der Realität oftmals einfach weniger Platz für Menschen in schwächeren Positionen.
Der öffentliche Raum ist Kontaktpunkt für unterschiedliche Menschen mit vielen verschiedenen Bedürfnissen – dies verläuft nicht immer konfliktfrei. Unserer Erfahrung nach setzen sich in Nutzungskonflikten oft lautere, angesehenere, mehrheitsfähigere, besser vernetzte Positionen durch.
Im öffentlichen Raum bedeutet das dann die Verdrängung von bestimmten Personen und Personengruppen: Sie kennen nicht die richtigen Beschwerdestellen, sie haben nicht die richtigen Kontakte, sie haben keine Lobby hinter sich. Unserer Ansicht nach, haben aber alle Personen ein Recht auf die Nutzung des öffentlichen Raums!
COVID-19 bezogene Problemlagen
Die Pandemie hat Auswirkungen auf die Lebensrealitäten von marginalisierten Personen, insbesondere durch fehlende Infrastruktur: Es gibt kaum bis wenig niederschwellige Testangebote, die
z.B. an Notschlafstellen oder Tageszentren angebunden sind. Es ist unklar, wie und wo sich wohnungslose Personen in Quarantäne begeben können, sollten sie sich infizieren. Als Gruppe von Menschen, die aufgrund ihrer Lebenssituation ein besonderes Gesundheitsrisiko trägt, wäre eine möglichst rasche Impfung hilfreich. Inwiefern wurden und werden sie aber im Impfplan berücksichtigt?
Eine weitere Nebenerscheinung von Lockdowns, der Präventionsmaßnahmen und der derzeitigen Nutzung des öffentlichen Raums ist, dass Normen und Regeln sehr präsent sind – Menschen jedoch abhängig von ihren Privilegien und Freiheiten unterschiedlich davon Gebrauch machen. So wird über die Gruppe wohnungsloser Männer, die im Park nebeneinandersitzen und Alkohol konsumieren, geurteilt, weil sie den vorgeschriebenen Abstand nicht einhalten. Die Gruppe Eltern aber, die sich nachmittags im Park trifft, gemeinsam auf der Decke sitzt und mit Sekt anstößt, erntet Verständnis.
JUVIVO, insbesondere die FAIR-PLAY-TEAMs, setzen sich daher dafür ein, dass es mehr Verständnis, Empathie und Unterstützung für die Bedürfnisse von marginalisierten Menschen gibt und fordert die Stadtregierung ebenso wie die Bundesregierung dazu auf, Infrastruktur und entsprechende Angebote auszubauen:
Schutz und Unterstützung statt Strafe UND ein Recht auf Betteln
Menschen aufgrund ihrer Armut zu strafen hilft nicht, ihre Armut zu beenden, vielmehr wird ihre Situation dadurch verschlechtert! Lassen wir Menschen betteln und damit ihren Lebensunterhalt verdienen, denn es ist keine leichte Arbeit: der Arbeitsplatz ist nicht durch Arbeitsrechte geschützt, Unterstützung von der AK können bettelnde Menschen keine erwarten, sie sind Stigmatisierung und Verurteilung ausgesetzt.
Mehr Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum und Verdrängungsprozesse stoppen
Der öffentliche Raum muss als Aufenthaltsraum für alle erhalten bleiben. Parkbänke, schattenspendende Pergolas und konsumfreie Räume sind für viele Menschen in der Stadt attraktiv – für marginalisierten Menschen wie z.B. wohnungslosen Personen sind sie manchmal lebensnotwendig. Um den Aufenthalt allen gleichermaßen zu ermöglichen, müssen wir sensibel sein und berücksichtigen, dass manche verdrängt werden, weil sie nicht laut und nicht sichtbar genug sind und keine Lobby haben.
Erweiterung von Versorgungsangeboten
Das Winterpaket der Stadt Wien, worüber v.a. in der kalten Jahreszeit Schlafplätze für wohnungslose Menschen zur Verfügung stehen, sollte ebenso wie 24-Stunden-Aufenthaltsmöglichkeiten in Notschlafstellen etc. unabhängig von COVID-19 bestehen bleiben. Es gibt eine Notwendigkeit Einrichtungen für Personengruppen zu schaffen, die sich in den bestehenden Einrichtungen nicht sicher fühlen und es braucht Versorgungsangebote für Menschen in mehrfach belasteten Situationen.
Trotz Hausverboten in bestehenden Einrichtungen, auch als Paare oder mit ihren Hunden brauchen sie Unterstützung und Aufenthaltsmöglichkeiten!
Ausbau von Unterstützungsangeboten
Wir sehen einen großen Bedarf an mehr niederschwelligen Unterstützungsangeboten für marginalisierte Personen um zum Beispiel mit psychischen Belastungen und psychiatrischen Diagnosen umzugehen.
Niederschwellige, mehrsprachige Beratungsangebote
Ebenfalls braucht es zusätzliche mehrsprachige, niederschwellige Beratungsangebote zu materieller Sicherung und einfachere Möglichkeiten finanzielle Unterstützung in Notlagen zu bekommen.
Einrichtung von Konsumräumen
Die Kriminalisierung von Suchtmittelkonsum führt zur Stigmatisierung und Bestrafung von Konsument*innen, was ihre Lebenssituationen verschlechtert. Dem könnte in Wien mit zentral gelegenen Drogenkonsumräumen begegnet werden.
Konsumräume, also geschützte, sozialarbeiterisch und medizinisch begleitete Räume in denen Menschen, die abhängig sind, Drogen konsumieren können, ermöglichen Rückzugsräume und menschenwürdige Lebensbedingungen für Menschen, die abhängig sind. Sie ermöglichen ein risikoärmeres Konsumverhalten, z.B. durch Ausgabe von sterilen Spritzen, die Entsorgung von infektiösem Material und Soforthilfe bei einer Überdosierung und vermindern Spritzenfunde in Parks.
Freier Zugang zu Hygieneprodukten und Möglichkeiten zur Körperpflege
Hygienemaßnahmen zur Prävention einer COVID-19-Infektion sind für marginalisierte Personen im öffentlichen Raum kaum umsetzbar: Wascht euch regelmäßig die Hände mit Seife! – Wo denn? Verwendet Desinfektionsmittel! – Woher denn? Der Zugang zu Hygieneprodukten und die Möglichkeit zur Körperpflege sind Privilegien über die nicht alle Menschen verfügen. Alle Menschen sollten jedoch Zugang zu Möglichkeiten der Körperpflege haben.