Position des Kiju-Netz für ein anderes Schulsystem Wien Mai 2014

Präambel:

Die offene Kinder- und Jugendarbeit in Wien versteht sich als ein Angebot für Kinder und Jugendliche und hat einen starken Fokus auf soziale Inklusion. Sie berücksichtigt Diversität, fördert Motivation und stärkt das Selbstwertgefühl.

Wir schätzen die Neugierde, stützen die Persönlichkeitsentwicklung und schützen die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Wir setzen uns dabei auch reflektiert parteilich mit den Lebensbereichen unserer Zielgruppen auseinander. Gerade weil wir Kinder und Jugendliche in all ihren Facetten ernst nehmen, können wir den großen Lebensbereich der Schule in unserer Arbeit nicht ausblenden.

Darüber hinaus sind wir als Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter daran interessiert in einer Welt zu leben,

die Kinder bzw. Jugendliche und ihre Lebenswelten als wertvollen Teil von Gesellschaft ernst nimmt

die Lernen als Antrieb jeglicher Entwicklung ansieht

und in der Chancengerechtigkeit als nachhaltige Investition in die Zukunft bewertet und gesichert wird.

Aus all diesen Gründen wollen wir uns an der Diskussion über Schule beteiligen, Vorschläge machen und Forderungen stellen.

Diese Präambel stellt den Grundkonsens der Organisationen des Kiju-Netz dar. Einzelne, in der Folge angeführte Forderungen und Positionen wurden teils kontrovers diskutiert. Die geführten Diskussionen spiegeln die Unterschiedlichkeit der bildungspolitischen Positionen wieder und zeigen auch, dass das Finden einer gemeinsamen Position die Veränderung von Perspektiven braucht. Nur wenn die bildungspolitischen AkteurInnen – also wir alle – dazu bereit sind, ist ein in die Zukunft gerichteter Bildungs-Dialog möglich. Wir stellen daher nicht den Anspruch, dass unser Positionspapier die einzige bildungspolitische Wahrheit darstellt. Es ist vielmehr ein Denk-und Diskussionsanstoß und soll zu weiteren Diskussionen einladen.

1. Warum setzen wir uns für ein anderes Schulsystem ein?

Die Organisationen des Kiju-Netz setzen sich für Chancengerechtigkeit für alle Kinder und Jugendliche ein. Speziell in zwei Bereichen unseres Arbeitsalltags nehmen wir Probleme mit dem derzeitigen Bildungssystem wahr:

a. Bedarf an Lernhilfe

Die kontinuierlich große Nachfrage unserer Zielgruppen nach Unterstützung bei schulischen Aufgaben (Hausübungen, Vorbereiten von Referaten, Lernen für Prüfungen, etc.) zeigt deutlich, dass gerade Kinder und Jugendliche aus sogenannten „bildungsfernen“ Familien nicht ausreichend Unterstützung in der Schule erfahren. Die in der Schule gestellten Leistungsanforderungen setzen voraus, dass im familiären Umfeld und in der „Freizeit“ mit Kindern und Jugendlichen gelernt wird, oder aber genügend finanzielle Ressourcen vorhanden sind, um diese Leistung bezahlter Weise an z.B. Nachhilfe-Institute auszulagern. Beide Möglichkeiten stehen der Mehrzahl der von uns betreuten Kinder und Jugendlichen nicht zur Verfügung. Im Alltag der offenen Jugendarbeit wird offensichtlich, was inzwischen diverse Studien belegen: dass das österreichische Schulsystem in hohem Maß bestehende soziale Verhältnisse reproduziert. Jugendliche aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien – besonders häufig und besonders prekär gepaart mit Migrationshintergrund – finden keine gerechten Chancen vor, um höhere Bildungsabschlüsse und damit sozialen Aufstieg zu erreichen.

b. ProblememitSchuleundArbeit/AusbildunghäufigsteThemenbeiBeratung

Im Rahmen unserer lebensweltorientierten Individualhilfe hören wir von unterschiedlichen Problemen, die Kinder und Jugendliche mit Schule haben: Jugendliche gehen ungern in die Schule oder im schlimmsten Fall schwänzen sie die Schule, fühlen sich von LehrerInnen diskriminiert, und machen mannigfaltige Gewalterfahrungen im Zusammenhang mit Schule. Nach Jahren negativen Feedbacks in der Schule ist es für viele Jugendliche schwierig, Motivation für weiterführende Ausbildung zu entwickeln. Zudem sind Kinder, Jugendliche und ihre Eltern häufig sehr schlecht informiert über die ihnen offenstehenden Möglichkeiten von weiterführender (Aus)bildung und Berufseinstieg und /oder fühlen sich von der Fülle der Möglichkeiten überfordert.

Wir, die Organisationen des Kiju-Netz, sind deswegen überzeugt: Neben offenen, ressourcenorientierten Freizeitangeboten und individuellen, sozialpädagogischen Unterstützungsangeboten, wie sie die offene Jugendarbeit leistet, braucht es strukturelle Veränderungen im gesamten Bildungssystem.

2. Inwiefern soll sich das Schulsystem verändern?

Unsere Vision von Schule ist in vielerlei Hinsicht inspiriert von den Prämissen informeller Bildung, so wie sie in der offenen Jugendarbeit geleistet wird. Dabei geht es uns nicht nur um einen quantitativen Ausbau von Bildungs- und Betreuungsangeboten, sondern um konzeptionelle Änderungen der pädagogischen Gestaltung des Schullebens unter Einbeziehung außerschulischer PartnerInnen.

Die Organisationen des Kiju-Netz unterstützen auf Basis der Lebenslagen und Bedürfnisse unserer Zielgruppen besonders folgende Positionen:

a) Eine gemeinsame Schule für alle 6- bis 15jährigen überwiegend in Ganztagesform: In dieser „Schule ohne Schultasche“ wäre sichergestellt, dass Aufgaben und formales Lernen nicht mehr in der Freizeit bewerkstelligt werden müssen. Wir verstehen Ganztagsschule allerdings nicht als bloße Verlängerung von schulischer Betreuung, sondern wir setzen uns für eine Veränderung der Schulkultur in Richtung Ganztagsbildung ein. Dazu braucht es innovative Angebotsstrukturen, die Bildung als Einheit von Identitätsbildung und Ausbildung ermöglichen. Dabei gäbe es z.B. kleinere Klassen, Mehrstufenklassen und mehr freies bzw. projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen, verschränkt mit Kultur- und Sportangeboten. Lernen würde auch klassenverbandsübergreifend und interessenbezogen ermöglicht, und zwar abseits eines Stundenrhythmus mit fünf Minuten Pausen.

Eine von der Jugendarbeit angestrebte Schule wäre kommunal organisiert und regional und lebensweltlich geöffnet, insofern auch gut vernetzt mit Trägern offener Jugendarbeit.

b) Beurteilungssysteme verändern – mehr Fokus auf Förderung und Entwicklung: In der Jugendarbeit gibt es das Prinzip der 2., 3., 4. Chance. Umgelegt auf Schule würde das bedeuten, „Sitzenbleiben“ zu verhindern. Es gäbe alternativ oder zumindest zusätzlich zu Noten umfassendes und differenziertes Feedback. Alle Potentiale, Ressourcen und Interessen der SchülerInnen würden berücksichtigt, zum Beispiel mit Lernangeboten, die kognitive, haptische, musische und soziale Aspekte beinhalten.

c) Demokratische Schule, mehr Mitbestimmung von SchülerInnen: Damit Kinder und Jugendliche die für ein demokratisches Miteinander nötigen Kompetenzen erwerben können, sollten sie in der Schule Demokratie aktiv leben können. Das bedeutet, dass wesentliche Entscheidungen, die den Schulalltag betreffen, im partnerschaftlichen Dialog zwischen SchülerInnen, LehrerInnen, und Eltern getroffen werden sollten. Beteiligungs-Projekte wie Kinder- und Jugendparlamente, die schon jetzt in Kooperation mit der Jugendarbeit durchgeführt werden, wären fix verankerter Bestandteil schulischer Bildung und würden unter Rahmenbedingungen durchgeführt, wo es um reale Teilhabe und nicht nur um Kosmetik geht.

d) Elternarbeit: Ein Qualitätsindikator müsste sein, wie Schule die Zusammenarbeit mit Eltern organisiert – gerade auch mit solchen, die als „hard to reach“ gelten. Auch hier könnte die außerschulische Jugendarbeit Impulse geben – z.B. mit mehrsprachigen Ansprechpersonen,
die den Eltern auf Augenhöhe begegnen und sie „dort abholen, wo sie stehen“, wie ein alter sozialpädagogischer Lehrsatz besagt.

e) Dem Beziehungsaspekt zwischen PädagogInnen und Kids bzw. auch der Kinder und Jugendlichen untereinander würde mehr Bedeutung beigemessen. SchülerInnen würden von LehrerInnen als Subjekte anerkannt, denen in respektvoller, wertschätzender Weise zu begegnen ist. Es gäbe ein bezahltes Mittagessen für alle, das gemeinsam mit den Lehrenden eingenommen wird. Die PädagogInnen hätten so mehr alltäglichen Kontakt mit den SchülerInnen, statt nur die Funktion einer „Pausenaufsicht“. Idealerweise gäbe es auch die Gelegenheit, gemeinsam zu Kochen – Kochclubs sind in der Jugendarbeit ein mannigfach bewährtes Konzept, um sich Themen wie gesunder Ernährung, geschlechtsspezifischer Rollenverteilung etc. zu nähern.

f) Förderung von transkultureller Kompetenz und Inklusion: Dazu bräuchte es neben der Möglichkeit von Begegnungsräumen in Schulen ein Schulsystem, das eine gute soziale Durchmischung am jeweiligen Standort fördert. Mit einer ausreichenden Ressourcenausstattung und verbindlichen Qualitätsstandards (abseits von PISA-Messlatten) müsste sichergestellt werden, dass ein Abwandern in Privatschulen auch für materiell besser gestellte Familien nicht attraktiv ist. Mehrsprachigkeit müsste grundsätzlich (und nicht nur in Bezug auf bestimmte Sprachen von bestimmten Gruppen) als Gewinn anerkannt und gefördert werden, z.B. auch durch muttersprachliche Unterrichtsangebote für SchülerInnen mit nicht-deutscher Muttersprache. SchülerInnen sollten nicht nach konfessioneller Zugehörigkeit im Unterricht getrennt werden.

g) Räumliche Aspekte von Bildung berücksichtigen: Unsere Vision von Schule wäre auch baulich offener gedacht. Es gäbe nicht mehr nur Klassenzimmer für frontalen Unterricht von vorne, sondern auch Raum für Eigeninitiative und soziales Lernen. Dazu bräuchte es Begegnungs- und Aufenthaltsbereiche, Platz für Bewegung und Aktion.

h) Berufs- und Bildungswegorientierung: Diese müsste längerfristig und in Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen angelegt sein. Dazu bieten sich projektorientierte Formen an, die nicht rein auf Wissensvermittlung abzielen, sondern die die Auseinandersetzung mit individuellen Berufswünschen beinhalten und Erfahrungsräume. Berufsorientierung soll nicht zusätzlichen Leistungsdruck mit dem ausschließlichen Ziel einer Anpassung an arbeitsmarktpolitische Erfordernisse bedeuten, sondern auch die Auseinandersetzung mit Lebensperspektiven beinhalten.

i) PädagogInnenausbildung: Pädagoginnen sollten schon jetzt unabhängig der Schulform gemeinsam ausgebildet werden, um mittelfristig das Ziel einer gemeinsamen Schule umsetzen zu können. Dabei wäre es wichtig, dass angehende LehrerInnen während ihrer Ausbildung die offene Jugendarbeit kennenlernen können, z.B. im Rahmen von Praktika/Exkursionen bei Jugendarbeitsträgern.

3. Welche Rolle wollen die Organisationen des Kiju-Netz im Bildungssystem übernehmen?

Die Einrichtung der offen Kinder- und Jugendarbeit stehen für non-formale und informelle Bildungsarbeit auf freiwilliger Basis. Die Kinder und Jugendlichen kommen in der Regel nicht zu uns, um etwas im Sinne von Wissensvermittlung zu lernen. Mit der Teilnahme an unseren Angeboten erwerben sie aber Kompetenzen zur Lebensbewältigung und erweiterte Handlungsoptionen. Sie entwickeln ihre Sprach-, Handlungs- und Reflexionsfähigkeit und ihr Selbstwertgefühl durch die Erfahrung von Anerkennung und Selbstwirksamkeit. In der Auseinandersetzung mit sich und anderen lernen sie ihre eigenen Fähigkeiten, Bedürfnisse und Interessen besser kennen.

Diese spezifische Qualität eines freiwilligen, anlass- und bedarfsorientierten Lernens ohne Leistungsdruck soll auch in Zusammenarbeit mit dem Schulsystem jedenfalls erhalten bleiben. Kooperationsprojekte müssen daher stets auf Wahrung der fachlichen Grundprinzipien der offenen Jugendarbeit basieren und den eigenständigen und spezifischen Bildungsbeitrag der Jugendarbeit anerkennen. Die Zukunft der offenen Jugendarbeit sehen wir daher weniger integriert im ganztagsschulischen Rahmen, sondern als ergänzendes, professionelles (und damit nicht durch Ehrenamt zu ersetzendes) Angebot im Sozialraum, das schulunabhängig ausgebaut werden sollte.

Konkrete Konzepte für Kooperationsprojekte sind teils schon vorhanden, wären teils noch zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln, wie z.B. im Bereich des Übergangs von Schule zu Beruf oder im Bereich der politischen Bildung.

Um neue und gewinnbringende Kooperationen zu entwickeln, ist es notwendig, dass sich die regionalen Bildungsträger mit ihren jeweiligen Angeboten und spezifischen Zugängen vernetzen. Die Organisationen des Kiju-Netz regen dafür Bildungsplattformen an, die regional organisiert sein und aus VertreterInnen aller Bildungseinrichtungen des Bezirks bestehen sollten.

Die sieben Organisationen des Kiju-Netz bieten in zehn Wiener Bezirken offene Kinder- und Jugendarbeit in Jugendräumen und im öffentlichen Raum an.

Rückfragehinweis:

Mag.a DSAin Gabriele Wild, Verein JUVIVO Tel. +43 699 19259188, gabriele.wild@juvivo.at

Stephan Schimanowa, Verein Kiddy und Co Tel. +43699 17863303, s.schimanowa@kiddy.co.at